Vor kurzem hatte ich die Möglichkeit in einer kleinen Seminargruppe an der Gestaltung von Change Prozessen in komplexen Systemen zu arbeiten. In Leesburg, Virginia, etwa 40 Meilen von Washington D.C. entfernt, trafen sich Organisationsentwickler*innen aus allen Teilen der USA. Ich war zwar der einzige Europäer, dennoch war das Ausmaß an kultureller Diversität groß: Indien, Peru, Libyen, natürlich die USA und in meinem Fall Österreich waren einige Geburtsländer von uns 8 Teilnehmern. Hautfarbe, Alter, beruflicher Hintergrund - wir hätten viel unterschiedlicher nicht sein können. Diese Vielfalt spiegelte im Laufe des Seminars genau das wider, was im Umgang mit komplexen Systemen erforderlich ist: Je vielfältiger die Perspektiven, aus denen wir komplexe Situationen betrachten, desto besser. So wie Marcel Proust es ausdrückte:
"Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit anderen Augen zu sehen."
Wann ist eine Situation komplex?
Der Religionshistoriker James Carse liefert eine philosophische Erklärung, die auch für die Wirtschaft relevant ist. Er unterscheidet in seinem Buch „Finite and Infinite Games“ zwischen (Lebens-)Spielen mit einem klaren Ende und solchen, die praktisch unendlich sind. Fußball, Schach, vielleicht Elternschaft, in früheren Zeiten Bildung, das sind alles Spiele, die nicht nur einen Anfang und ein Ende haben, sondern auch klare Regeln. Wenn wir sie brechen und erwischt werden, müssen wir die Konsequenzen tragen. Deshalb setzen wir uns klare und SMART-Ziele, entwickeln Strategien, erstellen Pläne und Meilensteine. In einem endlichen Spiel wissen wir, was wir tun müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Wenn wir es nicht schaffen, denken wir, dass wir etwas falsch gemacht haben.
Gleichzeitig wissen wir intuitiv, dass dieses Spiel im wirklichen Leben oft anders funktioniert. Unsere Urlaubspläne werden durch von uns nicht beeinflussbares schlechtes Wetter, unsere Geschäftsstrategien durch (Br)Exits oder Politiker, die ihre Länder „great again“ machen wollen, durchkreuzt. Natürlich gibt es auch im unendlichen Spiel immer noch Regeln, aber diese können sich rasch und ohne lange Vorankündigung ändern: Marktgegebenheiten, gesetzliche Rahmenbedingungen, Börsenkurse, Umweltereignisse.
Wir leben in einer Welt, die durch das Akronym VUKA gekennzeichnet ist: volatil, unsicher, komplex, ambig. In dieser VUKA-Welt können wir natürlich immer noch zielorientiert arbeiten, aber wir verstehen zugleich, dass unsere Bemühungen aufgrund unvorhersehbarer Umstände umsonst sein können. Auf diese Unvorhersehbarkeiten müssen wir lernen uns einzustellen.
Wicked Problems
In Organisationen nehmen wir aus all diesen Gründen einen deutlichen Anstieg der Zahl der sogenannten wicked oder sticky problems wahr. Das sind die Probleme, die trotz vieler Versuche, Lösungen zu finden, bestehen bleiben. Sie können nicht durch lineare, erprobte Lösungsansätze oder Änderungen beseitigt werden.
Wann ist eine Situation also komplex? Eine Situation ist in Organisationen immer dann komplex, wenn die bisherigen Maßnahmen zur Lösung des Problems erfolglos geblieben sind.
Da es sinnvoll ist, zwischen endlichen und unendlichen Spielen im Leben zu unterscheiden, sollten wir in der Organisationsentwicklung auch nach dem Grad der Komplexität der Situation unterscheiden, die wir verändern wollen. Wenn die Dinge funktionieren, ist Komplexitätsdenken nicht erforderlich. Auch müssen wir nicht den Prinzipien des Komplexitätsgedankens folgen, wenn wir klare Problemursachen identifizieren und bewährte Methoden zu ihrer Lösung einsetzen können. Auch im Change Management gibt es Situationen, in denen lineare Entwicklungen stattfinden und Veränderung gut steuerbar ist. Genaue Leitlinien oder Phasenmodelle wie beispielsweise John Kotters bekannte 8 Schritte des Wandels, sind in solchen Fällen hilfreich.
Wenn wir aber bemerken, dass unsere Bemühungen sich verlangsamen, wenn wir die Ursachen nicht erkennen können oder wenn unsere Bemühungen nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, dann sind das Signale, dass ein grundlegend anderer Ansatz erforderlich ist. Lineare und phasenorientierte Änderungsmodelle müssen durch andere Instrumente ersetzt werden.
Veränderungsversuche haben in komplexen Problemsituationen übrigens automatisch experimentellen Charakter, da das Ergebnis nicht eindeutig vorhersehbar ist. Doch gerade in einem solchen Umfeld entstehen Innovationen und, oft überraschend, radikale Erneuerungen.
Wie gestalten wir Veränderung in komplexen Systemen?
Wir benötigen Werkzeuge und Methoden, um mit dem Auftauchen von Unsicherheit während der Veränderungsprozesse umgehen zu können. Diese Tools folgen nicht mehr automatisch den klassischen Prinzipien klar formulierter Ziele, Meilensteile und der abschließenden Evaluierung von Maßnahmen. Aus der Chaosforschung wissen wir, dass selbst leicht unterschiedliche Wiederholungen eines Experimentes im Langzeitverhalten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Exakte Wiederholungen sind in sozialen Systemen unmöglich - und alle Unternehmen sind soziale Systeme. Wir können daher vielfach nicht auf bewährte Modelle zurückgreifen.
Was können wir nun tun, um langfristig dennoch die gewünschten Ergebnisse zu erreichen? Wir können uns auf die Muster und Verhaltensweisen konzentrieren, die wir in unserer Organisation erleben. Unser Handeln basiert auf diesen Beobachtungen. Die Ergebnisse werden in eine permanente Feedback-Schleife eingespeist. Bei Bedarf wiederholen wir dies mehrmals, bis wir entsprechende Ergebnisse erzielen.
Wir unterstützen diesen Prozess durch adaptives Handeln, wobei wir uns mit drei Fragen befassen:
- Welche repetitiven Phänomene und Verhaltensmuster können wir beobachten?
- Wie interpretieren wir diese Phänomene?
- Was ist die nächste sofortige Aktion oder Intervention, die wir daraus sinnvoll ableiten können?
Dabei hilft das von Glenda Eoyang und Royce Holladay eingeführte Konzept der „Adaptive Action“. Das Vorgehen erfolgt in drei Schritten.
1. Daten sammeln
Zunächst benötigen wir verlässliche Daten zu den folgenden Fragen:
- Welche Phänomene nehmen wir in unserer Organisation wahr? Welche Verhaltensweisen nehmen wir wahr?
- Welche treten gehäuft auf?
- Welche Muster können wir erkennen?
Um nicht zu früh zu urteilenden Bewertungen zu kommen, kann es hilfreich sein, die Beobachtungen mit Hilfe des Polaritätenmodells zu erfassen. Ein Beispiel: Wenn wir in einem Unternehmen einen Konflikt zwischen Einkauf und Produktion wahrnehmen, dann halten wir die beiden positiven Polaritäten „kostenbewusst - qualitätsbewusst“ fest, mit denen wir in der Folge in konstruktiver Form und in möglichst positiver Stimmung weiterarbeiten.
Methoden wie qualitative Tiefeninterviews, der Trigon-Aspekteraster oder ähnliche Instrumente können sehr hilfreich für diese Datensammlung sein.
2. Die Daten interpretieren
Diese Daten werden dann hinsichtlich ihrer Bedeutung und Folgen interpretiert. Ein hilfreicher Schritt ist hier die Unterscheidung zwischen organisierten, unorganisierten und selbstorganisierten Zonen innerhalb eines Unternehmens oder einer Abteilung.
In jedem System gibt es Dinge, die reibungslos funktionieren. Wir nehmen diese Dinge als geordnet wahr. Sie sind stabil. Diese Stabilität wird durch zwei Faktoren beeinflusst (vgl. Eoyang und Holladay, 2013):
a) Durch den Grad der Übereinstimmung zwischen Personen, die ein Systemmuster beeinflussen. So werden die Mitarbeiter der meisten Unternehmen darin übereinstimmen, dass Kundenorientierung ein wichtiger Unternehmenswert ist, es könnte aber sehr unterschiedliche strategische Vorstellungen geben, wie diese am besten gewährleistet werden kann.
b) Durch den Grad der Gewissheit, den es im Umfeld der Organisation zu diesem Systemmuster gibt. Wenn Mitarbeiter ihre Löhne nicht rechtzeitig erhalten, werden diese sich gewiss Sorgen über die finanzielle Situation des Unternehmens machen oder zornig über die Schlamperei werden. Wenn ein Unternehmen dagegen in eine neue Technologie investiert, ist es viel ungewisser, ob sich diese Investition rentieren wird.
Keine Organisation will Chaos im Bereich der Lohnverrechnung. Team building-Aktivitäten, die Einführung von Regelungen und Arbeitsvereinbarungen können Methoden sein, um diese organisierte Zone zu erweitern.
Stabilität ist jedoch nicht in jeder Situation vorteilhaft. Stabile Marketingprozesse übersehen leicht Veränderungen im Marktumfeld. Innovationsprozesse entstehen nie aus stabilen Verhältnissen heraus, sondern benötigen immer Dynamik oder gar Chaos. Nicht zufällig spricht der österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter von schöpferischer Zerstörung, die notwendig ist, um Innovationen hervorzubringen.
In der unorganisierten Zone gibt es diese Dynamik und Spannungen zur Genüge. Das bedeutet einerseits, dass dies ein fruchtbarer Boden für das Entstehen von Innovationen ist, andererseits aber auch, dass die Dinge als chaotisch wahrgenommen werden und Konflikte häufig sind. Und natürlich geht es darum, sich nicht im Chaos aufzureiben. Chaos ist auf Dauer schwer zu ertragen.
Zwischen der organisierten und der unorganisierten Zone liegt die Selbstorganisation. In dieser Zone gibt es permanente Bewegung, spontane Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen, die sich rasch bilden und sich ebenso rasch wieder auflösen. Es gibt Überraschungen, Lösungen sind emergent, allerdings nicht wiederholbar.
3. Die nächste Aktion planen
Im Zuge der Interpretation der Daten und wahrgenommenen Muster wird ein Organisationsentwicklungsprozess im komplexen Umfeld sich die folgenden Fragen anhand dieses Landschaftsdiagramms folgende Fragen stellen:
- Wo stehen wir mit unseren unterschiedlichen Aufgabenstellungen?
- Wo wollen wir hin?
- Wie wollen wir dorthin kommen?
Wir leiten die unmittelbar nächste Handlung oder Intervention ab, die sich aus den Antworten auf diese Fragen ergibt.
Stabile Zustände sind resistent gegen Veränderungen. Interventionen, die auf Veränderungen in der organisierten Zone abzielen, zielen darauf ab, Spannung und die daraus resultierende Energie zu erzeugen, die Veränderung und Dynamik ermöglicht.
Die unorganisierte Zone erfordert Methoden, die ein Gefäß für die mit der Unsicherheit verbundenen Ängste bilden. Die Beziehungen müssen konsolidiert werden. Es braucht ein Mindset, das nach Innovation strebt.
Auch Selbstorganisation organisiert sich nicht von selbst. Wie die anderen beiden Zonen braucht es Gefäße, die sie möglich machen.
Interventionen werden also folgende Fragestellungen beantworten:
- Welche Gefäße sind nötig, um die jeweiligen gewünschten Zustände in den Zonen der Organisation, Unorganisation und Selbstorganisation zu erhalten? Derartige Gefäße können Arbeitsgruppen, Besprechungen, Regelwerke, Kommunikationssysteme und vieles mehr sein.
- Welche Differenzen müssen herbeigeführt werden, um einen Wechsel von einer Zone in die in den andere zu ermöglichen? Erst das Entstehen von Differenz ermöglicht es, das Trägheitsmoment zu überwinden, einen Musterwechsel herbeizuführen und zu neuen Verhaltensweisen zu kommen.
- Und schließlich: welcher Austausch ist zwischen den Beteiligten erforderlich, um den gewünschten Organisationszustand zu erreichen? Dieser Austausch kann sich auf Informationsaustausch, Ressourcen, eingesetzte Energien, Gewinnverteilung etc. beziehen.
Fazit
In komplexen Systemen können wir nicht mit Sicherheit vorhersagen, welche Maßnahmen welche Wirkung haben werden. Die Organisationsentwicklung in einem komplexen Umfeld ist ein iterativer Prozess. Dabei holen wir uns permanent Feedback zu unseren stabilen und instabilen Zonen im Unternehmen. Auf der Grundlage dieses Feedbacks und unserer Ideen können wir dann neue Maßnahmen ergreifen.
Ein Vergleich: wenn Apple oder Microsoft ein Update ihrer Betriebssysteme einführen, geschieht dies nicht mit dem Ziel, eine finale Lösung für das optimale Betriebssystem zu finden, sondern einfach, Innovationen zu generieren, von denen der Kunde profitiert. Ähnlich suchen wir bei komplexen Veränderungsproblemen nicht nach der endgültigen Lösung für das Betriebssystem unserer Organisation, sondern arbeiten kontinuierlich und adaptiv an unserem Unternehmen. Wir tun dies so gut wir können, bleiben uns aber bewusst, dass das Bestmögliche niemals endgültig erreicht werden kann.
Literaturverzeichnis
Carse, James (1986), Finite and Infinite Games. New York.
Eyang, Glenda H. und Royce J. Holladay (2013), Adaptive Action. Uncertainty in Your Organization. Stanford, CA.
Kotter, John (2012), Leading Change. Harvard Business Review Press.
LaCour, Deat (2019), Facilitating and Managing Change in Complex Systems. NTL National Training Laboratory workshop material. Unpublished.
Stacey, Ralph D. (1996), Complexity and Creativity in Organizations. San Francisco.